Auf Cthulhus Spur

Gepflegtes Rollenspiel rund um den kriechenden Wahnsinn

黄色の詩 (Kiiro no shi) – Das gelbe Gedicht

Das Glück ist uns gewogen. In Newport können wir zwei Taucheranzüge und eine Pumpe ausleihen. Das sollte für unsere Zwecke gut funktionieren. Gegen halb drei am Nachmittag sind wir zurück am Woolgreens Lake und bereit für den ersten Tauchgang. Wir diskutieren, wem die Ehre zuteil werden soll, die Taucheranzüge anzulegen und den Gund des Sees nach dem Gedicht zu durchsuchen. Niemand will diese Aufgabe freiwillig übernehmen, so dass wir den Zufall entscheiden lassen und es auslosen. Das Schicksal wählt Carla und Mycroft. Ich bin froh, dass es nicht mich getroffen hat, denn ich fühle mich schon den ganzen Tag etwas schwach auf der Brust.

Henry, Dr. Nidelven und ich bleiben bei der Pumpe. Wir beobachten, wie Carla und Mycroft ins Wasser steigen. Mehr unbeholfen denn elegant entschwinden sie im moderigen Wasser. Der Untergrund scheint schwierig und rutschig zu sein. Ich beginne, langsam und gleichmäßig den Hebel der Sauerstoffpumpe zu bewegen. Nach relativ kurzer Zeit aber schon hechten die beiden hastig zurück ans Ufer. Panik spiegelt sich in ihren Blicken. Mycroft reist sich eilig den Taucherhelm vom Kopf, während Dr. Nidelven Carla von ihrem Helm befreit. Carla plappert aufgregt los, Mycroft jedoch gibt sich schweigsam und wortkarg. Das wundert mich nicht, nachdem Carla erzählt, dass sie unter Wasser die gelbe Stadt Carcosa gesehen haben, wie, als würden sie aus dem See Hali hinaufblicken. Tentakeln hätten versucht, nach ihnen zu greifen und dann haben sie die Flucht ergriffen. Das Gedicht haben sie nicht dabei.

„Das kann nicht sein, das kann nicht Carcosa gewesen sein. Wir müssen uns das eingebildet haben“, insistiert Mycroft. Ich widerspreche ihm nicht und auch Henry und Dr. Nidelven halten sich zurück, diese Annahme zu bestreiten, doch Mycroft braucht uns auch gar nicht dafür. Er kann sich ziemlich gut selbst überreden, wenn es drauf ankommt, denn im Grunde weiß er ganz genau, dass das, was sie dort unten gesehen haben, keine Halluzination war. Aber wir müssen das Gedicht bergen.

Nach einer kurzen Erholungspause unternehmen Carla und Mycroft einen zweiten Versuch. Ich gehe wieder an die Pumpe. Plötzlich beginnt die Wasseroberfläche zu brodeln und schwarze Tentakeln schnellen aus dem Wasser empor und auf uns zu.
“Henry, übernimm du mal“, rufe ich, lasse die Pumpe fahren und greife mir das Jagdsgewehr, das Mycroft am Ufer zurück gelassen hat. Ich feuere auf die Kreatur. Ein weiterer Schuss fällt aus Dr. Nidelvens Schrotflinte. Das Wesen kreischt getroffen auf und peitscht unkontrolliert mit seinen Tentakeln um sich. Dabei erwischt es Henry und die Pumpe, die beide dumpf umgeworfen werden. Ich hechte zur Pumpe und helfe Henry, das Gerät wieder aufzustellen. Doch das allein reicht nicht. Der Sturz hat die Pumpe beschädigt. Ein paar Schrauben und Kleinteile haben sich gelöst. Zum Glück sind es nur kleine Beschädigungen, die sich leicht reparieren lassen. Das Wesen hat sich wieder in die Tiefen des Sees zurückgezogen.

Jemand zieht dreimal an den Halteseilen, das Signal, das Carla und Mycroft das Gedicht gefunden haben. Henry bleibt weiter an der Pumpe, während Dr. Nidelven und ich Carla und Mycroft zurück ans Ufer ziehen. Carla gelangt zuerst an die Oberfläche. Hastig befreit sie ich von ihrem Taucheranzug.

„Ihr müsst Mycroft hochholen. Er hat das Buch!“, japst sie.
Das Buch? Das gelbe Buch? Spielt es auch bei dieser Geschichte eine Rolle?
Mit vereinten Kräften versuchen wir nun auch Mycroft zurück an Land zu bringen, aber etwas blockiert unsere Bemühungen. Wir zerren und zerren, aber das Seil gibt keinen Zentimeter nach. Ich bin kurz davor, selbst ins Wasser zu gehen, das Seil zu lösen und Mycroft an die Oberfläche zu holen, als der Widerstand plötzlich nachlässt. Mycroft hechtet an Land, in seinen Händen ein beschriebenes Blatt Papier. Das Tentakelwesen ist ihm auf den Fersen, doch ein letzter gezielter Schuss aus Dr. Nidelvens Schrotflinte macht ihm endgültig den Gar aus.

Henry und Dr. Nidelven beginnen Feuerholz zu sammeln. Das Gedicht muss schließlich vernichtet werden. Mir geht es noch immer nicht so gut. Mir ist schwindelig und etwas flau im Magen, als hätte ich etwas falsches oder zu wenig gegessen. In der Annahme, das meine Freunde es schon hinkriegen werden, dass Gedicht zu vernichten, ziehe ich mich etwas von ihnen zurück, um meinen Schwindel zu besänftigen. Ich glaube, eine kurze Meditation in der Natur könnte mir gut tun. Zuvor krame ich noch in meiner Tasche nach meiner Wasserflasche, doch statt dieser ertaste ich den Rahmen, der das Bild enthält, das Mr. Pickman mir gegeben hat. Ich ziehe das Bild aus meiner Tasche und finde mich kurz darauf vor Pickmans Wohnstätte wieder.
‚Das war so nicht geplant‘, überlege ich, aber dann fällt mir wieder ein, welche besondere Wirkung Pickmans Bilder haben.

„Mr. Okumura!“
Pickman kommt ghoulisch lächelnd aus seiner Höhle auf mich zu.
„Welch eine Freude, dass sie mich besuchen. Möchten Sie etwas essen? Ich habe gerade gekocht.“ Essen, ja, das klingt gut. Dankend nehme ich die Einladung an.

Mr. Pickman tischt zwei Schüsseln mit einem dickflüssigen Sud auf. Es duftet verführerisch.
„Lassen Sie es sich schmecken.“
Ich beginne zu essen. Verdammt, schmeckt das gut. Ich spüre, wie Energie in meinen Körper in der Wachwelt zurückkehrt. Ich habe das Gefühl, nach einer längeren Zeit der Entbehrung endlich mal wieder eine vernünftige Mahlzeit zu mir zu nehmen. Gierig leere ich die Schüssel, auch den Nachschlag, den Pickman mir ungefragt nachschenkt.

„Sie waren wohl ziemlich ausgehungert“, schmunzelt Pickman, als ich die zweite Schüssel geleert habe.
„Es wäre eine Lüge, das zu leugnen“, gebe ich zu, “vielen Dank für die Mahlzeit.“
“Nicht der Rede wert“, winkt Pickman ab, “aber Sie müssen jetzt zurück. Da, wo Sie gerade sind, ist es nicht sicher.“
“Sie haben Recht“, bekunde ich. Mein Körper befindet sich aktuell irgendwo im Dickicht des Waldes um den Woolgreens Lake, da, wo gerade eine Entität aus den Reihen des Königs in Geld gewütet hat. Es ist noch nicht vorbei, das spüre ich und ich bin alarmiert.

„Gehen Sie nur“, meint Pickman, “passen Sie auf sich auf und achten Sie auf eine ausgewogene Ernährung. Kommen Sie mich bald wieder besuchen und bringen Sie dann gerne etwas mehr Zeit mit.“
„Vielen Dank, Mr. Pickman.“ Ich verabschiede mich mit einer ehrerbietenden Verbeugung und dem Versprechen, bald wieder vorbei zu kommen.

Ich zwinge mich, aufzuwachen. Schüsse, Kreischen… war das nicht der Kampfschrei einen Byakhee? Zügig verstaue ich Pickmans Bild in meiner Tasche und eile zurück an das Seeufer. Gerade sehe ich noch, wie der Lauf von Mycroft seine Schrotflinte in den Rachen eines riesigen Byakhee richtet und abdrückt. Der Schädel der Kreatur wird zerfetzt und verteilt sich in alle Himmelsrichtungen.