Auf Cthulhus Spur

Gepflegtes Rollenspiel rund um den kriechenden Wahnsinn

表裏一体 (Hyōri Ittai) – Zwei Seiten einer Medaille

Noch halb im Traumland erwache ich langsam auf Chat Noir.
“Interessante Dinge, die du da tust und interessante Bekannte, die du da hast”, höhnt es in meinem Kopf, “ich glaube, ich werde dich noch eine Weile behalten. Vielleicht bist du ja doch nicht so nutzlos, wie es im ersten Moment schien. Hihihi…”
Dr. Krebs… Jetzt habe ich nicht nur diesen widerlichen Geschmack in meinem Mund, sondern auch diese penetrante Stimme in meinem Kopf. Er hätte sich keinen unpassenderen Zeitpunkt aussuchen können, um wieder mit mir in Kontakt zu treten, aber genau das ist wahrscheinlich seine Absicht. Genervt stehe ich auf und begebe mich ins Bad, um mich frisch zu machen.

Es geht bereits auf Mittag zu. Meine Freunde sind alle schon auf den Beinen. Noch etwas umnächtigt schlurfe ich gedankenverloren in die Küche um mir etwas zu Essen zu machen.
Babette ist empört, als ich versuche, mich in ihrer Küche selbst zu bedienen. Wild schimpfend – ich verstehe nur einzelne Wortfetzen ihrer französischen Flüche – und mich mit einem großen Holzlöffel in der einen und einem Rettich in der anderen Hand bedrohend, gibt sie mir zu verstehen, dass ich hier, in ihrem Reich, nichts verloren hätte.

„Kannst du mir bitte etwas zum Frühstück machen“, frage ich vorsichtig. Babettes Gesichtsausdruck wird deutlich milder.
„Aber natürlich“, antwortet sie versöhnlich, „bitte setzen Sie sich, Monsieur Okumura.“
Wenig später stehen frische Croissants, Käse und Milchkaffee auf dem Tisch. Höflich bedanke ich mich bei Babette für die Fürsorge.

Mycroft, Henry und der Lord kehren von ihrem morgendlichen Ausflug mit ihren Hunden zurück. Mycroft lächelt, als er mich sieht.
„Sanjūrō, du bist wach?“, freut er sich, „wie geht es dir?“
„Ganz gut soweit“, antworte ich. Das entspricht im Großen und Ganzen auch der Wahrheit, dennoch bin ich noch immer verwirrt ob meiner Erlebnisse in den Traumlanden. In mir schwelt ein Konflikt. Die Königin der Nacht und die Katzenmatriarchin von Celephais – ich kann diese beiden für mich nicht in Einklang bringen. Sind es verschiedene Avatare ein und der selben Entität oder habe ich mich während meiner letzten Traumreise noch einem weiteren Herren – bzw. einer weiteren Herrin – verpflichtet? Diese Unsicherheit macht mir zu schaffen. Ich fühle mich hoffnungslos überfordert.

Als wir am Nachmittag in den Ritualraum unterhalb von Carlas Weinkelller hinabsteigen, um die Traummünzen wieder aufzuladen, bin ich geistig noch immer abwesend und grüble vor mich hin. Als Carla im Ritualraum ihrem Singsang angestimmt hat, wir in diesen mehr oder weniger harmonisch mit einsteigen und die energetische Aura der Münzen sich spürbar verändert, berichtet Carla, dass sie im Gestein eine seltsame, mystische Struktur im Steinboden – oder auch knapp darüber, so genau kann sie es nicht sagen – zu erkennen glaubte. Niemand der sonst Anwesenden hat diese registriert, wie es scheint. Meine Freunde wollen noch weiter diesen mystischen Ort untersuchen, aber ich fühle mich nicht wohl ob meiner inneren Zerrissenheit.
„Ich werde wieder nach oben gehen“, erkläre ich, „ich muss mit Dr. Gaultier reden.“

Als ich etwa eine dreiviertel Stunde später wieder an der Oberfläche ankomme, kann Dr. Gaultier tatsächlich direkt eine Einzelsitzung für mich einberaumen. Ich erzähle ihm – als Metapher verpackt – von meinem inneren Konflikt. Während ich erzähle, halte ich meine Traummünze in der Hand und drehe sie zwischen meinen Fingern. Der Doktor hört aufmerksam zu.
Nachdem ich meinen Bericht beendet habe, nimmt er mir die Münze aus meiner Hand. Das bereitet mir tiefes Unbehagen, aber ich lasse es geschehen. Er dreht die Münze zwischen zwei Fingern direkt vor meinen Augen. Seine Antwort auf meine Frage überrascht mich sehr.
„Es sind zwei Seiten ein und derselben Münze“, erklärt er, „was Ihnen im Weg steht, sind überholte Sichtweisen, Konzepte wie Ethik und Moral. Wenn es Ihnen gelingt, diese Konzepte zu überwinden, werden Sie es erkennen und sehen und beide Seiten werden sich in Ihnen in Harmonie vereinen.“
Dann gibt er mir die Münze zurück.

Ethik und Moral… Ich schaue in mich hinein und erkenne, dass diese beiden Konzepte mich mein ganzes Leben lang geprägt und beherrscht haben. Es dürfte eine ganze Weile dauern, bis ich sie überwinden kann, aber vielleicht ist es wirklich an der Zeit, etwas zu ändern, um weiter voran zu kommen. In einer Sache habe ich allerdings Gewissheit gewonnen – ich bin mir jetzt sicher, dass die Königin der Nacht und die Katzenmatriarchin dieselbe sind. Das beruhigt mich, denn das hieße, ich bin in meinem Traum keine neue Verpflichtung eingegangen, sondern habe jene, der ich mich längst schon freiwillig hingegeben habe, bestätigt und gefestigt. Ich erkenne, wie der Druck spürbar von mir weicht.

„Vielen Dank, Dr.Gaultier, Sie haben mir sehr geholfen“, sage ich und verabschiede mich.
„Das freut mich“, erwidert der Doktor, „dafür bin ich schließlich da. Wenn Sie einstweilen wieder einmal meinen fachlichen Rat benötigen, zögern Sie nicht, mich zu konsultieren.“

Meine Freunde sind inzwischen auch aus der alten Templeranlage zurück an die Oberfläche gekehrt. Mycroft grinst über beide Ohren, Carla straft ihn mit wütenden Blicken. Auch Henry scheint amüsiert zu sein und schmunzelt vor sich hin, während der Lord versucht, seinen Blicken auszuweićhen.

„Was ist denn mit euch los?“, frage ich verwundert, „ist da unten irgendetwas passiert?“
Ja, das ist es, in der Tat. Wie meine Freunde mir etwas später berichten, ist der Ritualraum da unten wohl in der Lage, eine Art „Vorschau“ auf Zaubersprüche aus magischen Büchern zu geben. Henry hatte das De Vermis Mysteries mit nach unten genommen und der Raum hatte ihnen die Möglichkeiten eines Zaubers aus diesem Buch gezeigt, mit dessen Hilfe man Geist und Seele unter zwei verschiedenen Körpern tauschen kann. Sie waren nicht darauf vorbereitet gewesen, doch es war dennoch geschehen. Mycroft hatte seinen Körper mit Carla getauscht, der Lord mit Henry. Zum Glück konnte dieser Tausch auch wieder umgekehrt werden.
Ich stelle mir die Situation im Ritalraum bildlich vor und jetzt muss auch ich grinsen.