Auf Cthulhus Spur

Gepflegtes Rollenspiel rund um den kriechenden Wahnsinn

ハイパボレア (Haipaborea) – Hyperborea

Ich erwache heute relativ spät. Alle anderen haben sich schon zum Frühstück im Esszimmer versammelt, als ich nach unten komme. Nach dem Frühstück wollen wir Maxime aufsuchen. Er selbst nimmt eigentlich nie am gemeinsamen Frühstück des Hauses teil, so war er auch heute nicht anwesend. Ich gehe mit Mare und Senchō zu seinen Räumen und wir klopfen dort höflich an die Tür. Es folgt aber keine Antwort, nur ein geräuschvolles, ruhiges Atmen ist aus dem Innern des Raumes zu vernehmen.

“Er schläft”, sage ich, als Mycroft zu uns stößt, doch er lässt sich nicht abhalten, sich selbst zu überzeugen und einen Blick in das Zimmer zu werfen.

Ich verbringe den Rest des Vormittags damit, gemeinsam mit Mare und Senchō unseren Vorrat an Himmelslaternen aufzustocken, so dass wir zum Mittag wieder über zehn dieser Lichter verfügen. Beim Mittagessen ist dann auch Maxime zugegen. Er ist sehr gesprächig und freut sich über unser erneutes Interesse an seiner Arbeit. Mare äußert ihre Vermutung, dass das Verschwinden von Dingen und Menschen in der Region vielleicht durch fremde Wesen, die Dinge, Pflanzen, Tiere und sogar Menschen sammeln und in einer Art Schaukasten ausstellen. “Ganz so wie Sie Ihre Aquarien gestalten”, schließt sie ihre Äußerung.
“Das ist eine hochinteressante Idee”, antwortet Maxime. Er ist begeistert von fantastischen Ideen, jemand, der gedanklich an die Grenzen des Vorstellbaren geht und darüber hinaus, und so stellt auch der Gedanke an außerirdische Existenzen für ihn nichts dar, was abwegig wäre. Als Maxime uns wenig später in seine Räume einlädt, demonstriert er die Idee anhand seiner Aquarien. “Sehen Sie, dieses Modell eine gesunkenen Schiffes, das ist zum Beispiel das Wagenrad. Und diese Wasserpflanze dort hinten, das ist der Apfelbaum und dieser hübsche schwarze Schleierschwanz, das ist Mrs. Di Fiona.” Im Obergeschoss zeigt er uns ein halbfertiges Bild, an dem er in der letzten Nacht gearbeitet hat. Es zeigt die Unterwassersicht auf einen von einem Fischschwarm umkreiste Wal. Maxime schwärmt, während er uns das Werk erläutert, von der Welt unter der Meeresoberfläche.

“Waren Sie schon einmal unter Wasser?”, fragt Maxime.
“Zählen 200 Meter Tiefe?”, fragt Senchō, aber das ist nicht das, was Maxime meinte.
“Wissen Sie, wo ich gerne einmal tauchen würde?”, fragt Maxime. Ohne eine Antwort abzuwarten, fährt er fort. “Es gibt da einen mystischen Ort, der weiter von allen Landmassen entfernt liegt, als jeder andere. Er wird auch der Punkt Nemo genannt.”
“Es dürfte schwierig sein, dahin zu kommen”, wirft Mycroft ein, “ es ist sehr stürmisch dort.”
Maxime sieht ihn mit einer Mischung aus Überraschung und großer Neugier an.
“Woher wissen Sie das?”, fragt er.
“Ich war schon einmal da”, erwidert Mycroft.
Maxime ist begeistert. “Erzählen Sie mehr”, bittet er, “wie sind Sie dorthin gekommen?”
“Mit einer dreimastigen Schoneryacht”, antwortet Senchō, “ich war der Kapitän.”
Mit dieser Aussage reißt er alte Wunden in meiner Seele auf.
“Ach so”, erwidere ich zynisch, “und wer war es, der als Letzter von Bord ging, als das Schiff den Wellen preisgegeben werden musste?”
Senchō beginnt zu stammeln und zu drucksen.
“Wirklich? Warst du der Letzte?”, fragt er den Ahnungslosen mimend. Verdrängung… Das ist seine Art, mit dem Trauma umzugehen. Ich verzichte darauf, die Diskussion an dieser Stelle zu vertiefen. Es bringt nichts, immer wieder über Vergangenes zu reden – dadurch wird es nicht ungeschehen.
“Erstaunlich, dass Sie beide nach solchen Ereignissen noch immer befreundet sind”, meint Maxime.
‚Sind wir nicht’, denke ich bei mir, ‚das ist eine reine Zweckgemeinschaft’, doch noch bevor ich diesen Gedanken zu Ende gedacht habe, begreife ich, dass das nicht stimmt. Ich kann Senchō eigentlich ziemlich gut leiden.
“Sie müssen viel zusammen erlebt haben”, folgert Maxime, “erzählen Sie mir davon, bitte.”
Mycroft berichtet ihm von unserer Fahrt zum Pol der Unzugänglichkeiten und von unserem Schiffbruch. In Teilen schmückt er die Geschichte mit Details aus, an die ich mich nicht erinnern kann und an manchen Stellen wird er von Senchō unterbrochen, der die Geschichte durch seine Sichtweise ergänzt. Maxime lauscht gespannt den Ausführungen. Ich halte mich zurück. Ich habe bereits zu viel gesagt.

Während Maxime gebannt den Erzählungen meiner Freunde lauscht, durchforstet der Lord Maximes Bücherregal. Er scheint etwas Interessantes gefunden zu haben. Ein kleines, etwas zerschlissenes Büchlein hat seine Aufmerksamkeit erregt. L
“Maxime weiss mehr, als es im ersten Moment erscheinen mag”, vermutet er, nachdem wir Maximes Labor wieder verlassen haben, “ich habe eine Art Tagebuch gefunden. Dort wird von einer Unterwasserbeoachtung berichtet, von einem Wesen, groß wie ein Wal, aber von humanoider Gestalt.”
Irgendwie wirkt diese Beschreibung auf unheimliche Weise vertraut. Menschenartige Unterwasserwesen sind uns schon zuvor begegnet. Es wird kaum Cthulhu gewesen sein. Er ist größer als zehn Wale und vermutlich wäre der Autor dieser Zeilen nicht mehr in der Lage gewesen, seine Beobachtungen niederzuschreiben, hätte er wirklich den Großen Alten gesehen. Die Tiefen Wesen sind ihrer Gestalt nach nicht größer als Menschen, was der Größe eines Wals nicht im Ansatz nahe kommt. Nachdem, was wir bisher über die Gefolgsleute Cthulhus wissen, könnte dies die Beschreibung einer Beobachtung Dagons sein.

Ich verbringe den Nachmittag damit, meine Schwertkunst zu üben. Kuros Schattengabe, das spüre ich, wird um diese Uhrzeit nicht funktionieren. Es ist allein die Zeit der Katzen, in welcher der Zauber wirkt. Mycroft und der Lord fahren derweil nach Lyon, um das Orichalcum-Gefäß, das Mycroft seinerzeit samt Inhalt in Berlin der Thule entwendet hatte.

Am späten Abend will der Lord das vermeintliche Portal im Keller öffnen. Wahrscheinlich öffnet es einen Weg zu Tsathoggua. Mycroft hofft, hinter dem zu öffnenden Durchgang Orichalcum zu finden. Ich bin skeptisch, trotzdem neugierig genug, um mich dem Ausflug anzuschließen. Nach dem Abendessen, etwa gegen 21:00 Uhr, begeben sich der Lord, Mycroft, Mare und ich in den Raum mit der Stele. Ragnar will mit der Sache nichts zu tun haben und Mari-chan widmet sich lieber weiter ihren Pilzproben.

Andächtig platziert der Lord drei seiner Kugeln in den dafür vorgesehenen Mulden in der Stele. Es öffnet sich tatsächlich ein Portal, doch auf der anderen Seite des Durchgangs ist es stockfinster. Der Lord und Mycroft wagen es zuerst, das Portal zu durchschreiten. Wie durch einen dunklen Schleier gefiltert, können Mare und ich sie auf der anderen Seite dennoch deutlich erkennen. Mare und ich folgen ihnen. Wir finden uns in einer Höhle wieder. In einiger Entfernung sind fremdartige Geräusche zu vernehmen, das Krächzen, Fauchen und Brüllen unbekannter Tiere vermutlich. An den Wänden lagern Skelette ebenfalls von Tieren, deren Art mir bisher noch nicht untergekommen ist. Wir können hier atmen, auch wenn es bei jedem Atemzug in den Lungen brennt. Die Luft hier enthält viel mehr Sauerstoff, als es unser Organismus gewohnt ist.

Außerhalb der Höhle herrscht sternenklare Nacht, tropisches Klima und eine üppige Vegetation. In einiger Entfernung erhebt sich ein mächtiger Vulkan, wahrscheinlich der Voormithadreth, durch den ein Weg in die Stadt K’nyan und zu Tsathoggua führen soll. Wen dem so ist, ist das hier vermutlich der untergegangen prähistorische Kontinent Hyperborea, aber Orichalcum gibt es hier nicht. Der Lord äußert die Vermutung, dass wir dieses Mal nicht durch den Raum, sondern rückwärts durch die Zeit gereist sind.

Am Himmel fliegen federlose Vögel, die auf ledern wirkenden Schwingen durch die Luft gleiten. Etwas weiter weg im Dschungel ragen immer wieder vereinzelt die Köpfe langhalsiger Echsen durch die Baumwipfel. In Sichtweite zu uns passiert ein Rudel hochbeiniger Echsen, die nur auf ihren Hinterläufen stehen, das Bild. Die Wesen sind etwa drei Meter hoch. Die fremdartigen Geschöpfe wittern in unsere Richtung. Ein gellender Jagdschrei erklingt aus ihren Kehlen und signalisiert uns, dass es höchste Zeit für den Rückzug ist. Eilig sprinten wir in Richtung des Portals, den Atem der Echsen schon in unserem Nacken spüren. Als Mare als Letzte durch das Portal kommt, entnimmt der Lord die Kugeln aus der Stele und der Durchgang schließt sich wieder. Mare erzählt, dass sie, kurz bevor durch das Portal sprang, einen verdächtigen Luftzug Nähe ihres Beines und das typisch krachende Geräusch aufeinanderkrachender Kiefer registriert hätte.

Senchō versucht mich zu überreden, auch heute Nacht wieder in seinem Zimmer zu übernachten. Er macht unterschwellige und subtile Bemerkungen und druckst indifferent herum. “Was genau willst du mir sagen”, frage ich etwas gereizt. Es wäre nicht das erste Mal, dass Senchō mir gegenüber ein gewisses Interesse bekundet, um dann einen Rückzieher und derbe Scherze auf meine Kosten zu machen. Ich habe keine Ahnung, was er mit diesem Verhalten kompensiert.
“Nun komm schon, bei Maurice hast du doch sowieso keine Chance”, meint er.
Ich weiss nicht, was mich in diesem Moment mehr verärgert, die Tatsache, dass er mir meine Chancen bei Maurice, einem der Hausdiener, den ich in der Tat überaus attraktiv finde, abspricht, oder dass mein Interesse an diesem jungen Burschen nicht unbemerkt geblieben ist.
“Hör auf, dich in meine Privatangelegenheiten einzumischen”, herrsche ich Senchō an und stürme verärgert die Treppen hinunter und nach draußen.

Die kalte Luft schlâgt mir ins Gesicht und kühlt auch mein Gemüt ab. Meine Wut verklingt recht schnell, doch es bleibt ein Gefühl der Peinlichkeit. Mein Wutausbruch war unangemessen und überzogen, aber ich bin noch nicht bereit, diese Schwäche zuzugehen und mich bei Senchō zu entschuldigen. Immerhin hat auch er eine Grenze überschritten, und das nicht zum ersten Mal. ‘Erstaunlich, dass Sie beide nach solchen Ereignissen noch immer befreundet sind’, erinnere ich mich an Maximes Worte. Ja, es ist wirklich erstaunlich.